Der perfekte Anti-P.C.-Kommentar

Anleitung in fünf Punkten

Kommentare, die Political Correctness kritisieren, lesen sich allesamt gleich. Sie folgen meist einem Schema.
Dies ist ein bisher geheimer Leitfaden für Autoren, die Political Correctness diskreditieren wollen. Der Verfasser des folgenden Textes ist unbekannt. Es besteht jedoch wenig Zweifel, dass seine Ratschläge weite Verbreitung gefunden haben.

(1) Zeichnen Sie ein dramatisches Bedrohungsszenario!
Gleich zu Beginn sollten die ganz schweren Geschütze aufgefahren werden. Political Correctness muss im Mindesten „die Meinungsfreiheit bedrohen“. Besser gleich die Demokratie an sich. Beschreiben Sie Bemühungen für einen rücksichtsvollen Sprachgebrauch als „Tugendterror“ oder „Gesinnungsdiktatur“. Wer Rassismus beklagt, den bezeichnen Sie am Besten als „Sprachpolizist“ oder „Diskurswächter“.
Es ist entscheidend, Political Correctness konsequent mit Repression und Überwachung zu verknüpfen: Je dramatischer das Bedrohungsszenario, desto deutlicher richtet sich der Fokus des Lesers auf die Gefahren für die Allgemeinheit. Bedenken Sie: Es geht bei politisch korrekter Sprache NICHT um die Anliegen von irgendwelchen Minderheiten – es geht um die Mehrheit, welcher der Mund verboten wird!
Um das drohende Unterdrückungsregime zu veranschaulichen, empfiehlt es sich, Hinweise auf vergangene Gewaltherrschaften einzustreuen. Damit der Gedankensprung zur Gegenwart nicht weiter auffällt, müssen Sie ein wenig „um die Ecke“ formulieren. Schreiben Sie Sätze wie: „Der neue Totalitarismus schafft es ganz ohne Gestapo oder NKWD.“ So rufen Sie Schreckensbilder ab, ohne dass Ihnen Übertreibung vorgeworfen werden kann.
In Bezug auf das Bedrohungsszenario dürfen Sie auf keinen Fall vergessen, George Orwell und seine Dystopie „1984“ ins Spiel zu bringen! Das Werk nochmals zu lesen, können Sie sich jedoch sparen. Übernehmen Sie die Orwell-Passage einfach vom erstbesten Anti-P.C.-Kommentar, den Google findet.
Leider reicht es nicht aus, Ihren Text allein mit Verweisen auf vergangene oder fiktionale
Diktaturen zu füllen. Es benötigt Beispiele aus der Gegenwart, um zu illustrieren, wie P.C. die Menschen im Alltag belästigt. Da solche nicht leicht zu finden sind, greifen die Kollegen standardmäßig auf Anekdoten von US-amerikanischen Hochschulen zurück. Deren Botschaft: Seid gewarnt! Was heute auf amerikanischen Unis stattfindet, passiert morgen bei uns!
Wie bei Orwell fällt die Recherche hier leicht: „Political Correctness“ + „Universität“ googeln, copy, paste. Aber Obacht: Anti-P.-C.-Kommentare im deutschen Feuilleton werden bereits seit 1991 von den dramatischen Zuständen an US-Unis gespeist – also immer darauf achten, dass man aktuelle Beispiele erwischt!

(2) Spitzen Sie zu!
Die Aufregung muss im gesamten Text hochgehalten werden. Der Leser darf gar keine Zeit bekommen, sich zu fragen: Was hat das Binnen-I mit „Terror“ zu tun? Oder: Wieso ist es „Zensur“, wenn Menschen freiwillig auf bestimmte Begriffe verzichten? Deswegen: Spitzen Sie zu!
Wenn beispielsweise ein Verlag in einem Kinderbuch ein Wort austauscht, ist die Beschreibung „der Verlag tauscht ein Wort aus“ inadäquat. Die alternative Faktenbeschreibung lautet: „Ganze Bücher müssen umgeschrieben werden.“ Den Einsatz
für eine geschlechtersensible Ausdrucksweise beschreiben Sie mit „Vergewaltigung“ der deutschen Sprache. Und wenn ein Politiker aufgrund einer verbalen Entgleisung zurücktreten muss, empfiehlt sich die Formulierung: „Bereits der kleinste sprachliche Fehltritt beendet heute Karrieren.“
Kehren Sie dabei immer wieder zu ihrer Grundaussage zurück: Einerlei, mit welcher politisch korrekten Position Sie sich auseinandersetzen, behaupten Sie von dieser stets, sie laufe darauf hinaus, dass die freie Rede eingeschränkt werden soll.

(3) Schreiben Sie von der „Elite“ und dem „System“!
Es hilft unserer Sache nicht, dass im öffentlichen Diskurs niemand zu finden ist, der sich selbst als Verfechter der Political Correctness bezeichnen würde. Die einzigen, denen man das Etikett „politisch korrekt“ umhängen kann, sind die Grünen. Doch ihr Erfolg beim Wahlvolk ist seit jeher überschaubar. Stattdessen sitzt die ÖVP seit 1986 auf der Regierungsbank. Lautstarke P.-C.-Kritiker wie Thilo Sarrazin oder Henryk Broder können gut davon leben, dass sie publizieren, was „nicht gesagt werden darf“. Und ausgerechnet die „Krone“ ist die reichweitenstärkste Tageszeitung Österreichs? All das stört unsere Beweisführung. Deswegen müssen Sie vage bleiben, wenn Sie dem Leser die bedrohliche Macht der Political Correctness vermitteln wollen. Schreiben Sie folgerichtig von „der Elite“ oder „dem System“, ohne darüber weitere Worte zu verlieren. Es spricht auch nichts dagegen, Worte zu erfinden: „Antidiskriminierungsämter“ wäre hierfür ein schönes Beispiel. Begriffe wie „Schweigekartell“ oder „Sprachpolizei“ sind im öffentlichen Diskurs so gebräuchlich, dass auch diese verwendet werden können, ohne näher beschrieben werden zu müssen.

4. Loben Sie sich selbst!
Das hier vorgeschlagene Bedrohungsszenario lässt ein unerfreuliches Bild Ihres virtuellen Gegenspielers entstehen: Sie schreiben gegen jemanden an, der die Doktrin der Political Correctness über Freiheit, Wahrheit und Vernunft stellt. Im schlimmsten Fall ist er wissender Handlanger einer verschwörerischen Elite, im besten Fall ein mutloser Konformist, der unkritisch dem Mainstream folgt. Diesem gegenüber positionieren Sie sich als tapferer Kämpfer für die freie Rede. Sie sagen nur, was ist. Sie sind der Querdenker, der Klartext redet. Sie sprechen unangenehme Wahrheiten aus, selbst wenn Sie sich damit in Schwierigkeiten bringen. Sobald Ihr ehrenwerter Charakter klargestellt ist, können Sie über das Thema schreiben, um das es Ihnen eigentlich geht, kriminelle Ausländer zum Beispiel.

5. Vermeiden Sie das Wort Respekt!
Worte wie Anstand, Höflichkeit, Respekt oder Achtung sind unbedingt zu meiden. Während es ein Leichtes ist, den Begriff der Political Correctness zu schmähen, kommt man gegen diese Begriffe schwer an. Sie sollten prinzipiell aus der P.-C.-Debatte herausgehalten werden. Der Gedanke, dass Political Correctness für einen respektvollen sprachlichen Umgang mit allen Mitgliedern der Gesellschaft stehen könnte, darf dem Leser Ihres Kommentars nicht kommen.

Bonustipp: Rebranden Sie rechtzeitig!
Die Rede gegen die bedrohliche Political Correctness ist ein Selbstläufer. Sie wird populär bleiben, da sie ein wirksames Werkzeug ist, Minderheiten klein zu halten. Danach wird es immer Nachfrage geben. Allerdings erleidet jeder Begriff mit der Zeit Abnutzungserscheinungen. Um diesen vorzubeugen, empfiehlt es sich, rechtzeitig neue Überschriften zu finden. Der Vorteil: Sie können genau das gleiche sagen wie bisher, benennen es nur anders. Der neue Begriff wird dann diskutiert, als hätte es die Debatte um Political Correctness nie gegeben.
Ein Vorschlag für‘s Rebranding: Cancel Culture.

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Erschienen in: Die Presse, 1. April 2021