Von wegen Gefahr für die Meinungsfreiheit

Polemiken gegen politische Korrektheit gehorchen immer dem gleichen Muster: Man bauscht ein Bedrohungsszenario auf und übersieht umgekehrt, was bereits alles sagbar ist.

Wen bei bei der Lektüre des Kommentars von Georg Cavallar das Gefühl beschleicht, er oder sie hätte diesen Text schon einmal gelesen, täuscht sich nicht. Anti-P.C.-Stücke wie „Zu viel Aktivismus“ werden so oder sehr ähnlich seit Jahrzehnten wiederkehrend veröffentlicht.
Die überwiegende Reaktion der Leserschaft ist in aller Regel ein besorgt zustimmendes „Endlich sagt’s mal einer.“ Nachzulesen in diesem Fall auf DerStandard.at. Dort lautet das zweitpopulärste Posting: „Und das in DerStandard. Dass ich das noch erleben darf. 😉 Danke, Herr Cavallar!
Die große Zustimmung überrascht nicht. Wer Political Correctness attackiert, kann sich lobender Worte sicher sein. Doch die Stimmungslage, dass diese Form der Kritik in irgendeiner Weise originell oder rebellisch wäre, ist schwer nachvollziehbar. Im Jahr 1991 (!) erschienen die ersten P.C.-kritischen Meinungsstücke im deutschen Feuilleton. Das Gros der entsprechenden Artikel, die seither erschienen sind, sind allesamt dem gleichen Bauplan gefolgt. „Zu viel Aktivismus“ bildet hier keine Ausnahme und entspricht in Aussage und Struktur dem typischen Anti-Political Correctness-Kommentar.

Die Grundaussage: Die Meinungsfreiheit ist in Gefahr. Dies ist angeblich der Fall, weil ein Verlag ein Wort aus einem Kinderbuch streicht oder die Verwendung bestimmter Begriffe (z.B. N-Wort) kritisiert wird. Im vorliegenden Kommentar sind es zerstörte Denkmäler, ein beurlaubter Uni-Professor und der Irrsinn, dass HBO „Vom Winde verweht“ vorübergehend nicht ausgestrahlt hat.
Zentrales Element ist der beurlaubte Professor; wie in der P.C.-Kritik üblich, fungiert eine haarsträubende Uni-Episode als warnendes Beispiel dafür, dass über bestimmte Themen nicht mehr debattiert werden könne: „Fragen über Fragen, die gestellt und diskutiert werden sollten. Aber das ist offensichtlich unerwünscht.“ Der Witz dabei ist natürlich, dass Cavallar in der Tat diese Fragen diskutiert. Im öffentlichen Diskurs – in dem Fall im Online-Forum des Standard – wird die Debatte lebhaft weitergeführt. Bereits davor hat der Fall in den USA für zumindest so viel Aufregung gesorgt, dass man im fernen Österreich davon Notiz nehmen konnte. Es stellt sich die Frage: Wo soll dieser Ort sein, an dem diese Fragen nicht diskutiert werden dürfen?

Wie man es aus vielen Anti-Political Correctness-Kommentaren kennt, wird auch der Vorwurf gebracht, dass durch „politisch korrekte Identitätspolitik“ das gegnerische Lager gestärkt und weiter radikalisiert werde. Soll heißen: Jene, die Rassismus kritisieren, sind auch ein wenig mit schuld daran. Diese Argumentation ist gerade in Bezug auf das von Cavallar genannte Trump-Lager absurd: In den vergangenen Wochen konnte man beobachten, wie Trump & Co. die Frage des Tragens von Schutzmasken (!) zu einem Kulturkampf stilisierten. Dieses Lager benötigt keinen Auslöser, es radikalisiert sich ganz von allein. Zur Erinnerung: Alle Jahre wieder wird der „War on Christmas“ beklagt, ohne dass es dafür den geringsten Anlass gäbe.

In der Auseinandersetzung zwischen Trump-Lager und „Social Justice Warriors“ positioniert sich Cavallar in der vermeintlichen Mitte. Diese Selbstpositionierung als neutraler Beobachter – im Forum gelobt als „Stimme der Vernunft“ – ist typisch für den umsichtigen P.C.-Kritiker. Schließlich klingen Standpunkte wie der folgende immer gut: „Gehört es nicht zu einer liberalen Gesellschaft, dass auch abweichende Meinungen zumindest gehört werden sollten? Ist hier das Gut der Meinungsfreiheit nicht höher zu gewichten?“ Das Beispiel, auf das diese Sätze bezogen werden, ist allerdings äußerst schlecht gewählt: Cavallar bezieht sich auf den US-Senator Tom Cotton, der im Zuge der Ausschreitungen der letzten Wochen forderte, das Militär gegen US-Bürger einzusetzen. Zitat Cotton: „If local law enforcement is overwhelmed and needs backup, let’s see how tough these Antifa terrorists are when they’re facing off with the 101st Airborne Division.“ Abgesehen davon, dass der Senator ein zweifelhaftes Testimonial für das „Gut der Meinungsfreiheit“ abgibt, wird hier erneut der Fehler begangen, Kritik an Cottons Aussagen mit einer Einschränkung der Meinungsfreiheit in Verbindung zu setzen. Cotton hat seinen Standpunkt in der New York Times veröffentlicht, vertrat diesen auf Fox News und auf Twitter. Seine „abweichende Meinung“ wird gehört. Und er wird sie weiter vertreten. Er muss nur aushalten, dass er für seine Standpunkte Kritik einsteckt.

Dieses Faktum kann in der Debatte um Political Correctness nicht oft genug betont werden: Das Üben von Kritik ist nicht gleichbedeutend mit der Einschränkung der Meinungsfreiheit.
Man kann sich heutzutage auf mannigfaltige Weise rassistisch, menschenfeindlich oder sonst wie niederträchtig äußern. Man muss lediglich die Konsequenzen dafür tragen. Dabei kann man in Sachen Menschenverachtung de facto sehr weit gehen, ohne nennenswerte Folgen zu spüren. Wem heute nicht schlecht ist, der google: „Strache + an-urinieren“, „FPÖ Höbart + Höhlenmenschen“, „Gauland + entsorgen“ oder „von Storch + barbarischen, muslimischen, gruppenvergewaltigenden Männerhorden“.

Es ist der immer gleiche Winkelzug, den die Political Correctness-Kritik vollzieht: Man konstruiere ein derart schauriges Bedrohungsszenario – Tugendterror! Schweigekartell! Sprachpolizei! Meinungsdiktatur! –, dass die Leserschaft übersieht, was tatsächlich alles sagbar ist. Cavallar verzichtet erfreulicherweise auf die gängigen Kampfbegriffe. Doch auch er schließt mit der vielsagenden Mahnung, dass es sich bei dem, was er beschreibt, möglicherweise um einen „gefährlichen Virus“ handle, der sich global ausbreite.

Wer die Political Correctness-Kritik seit ihren Anfängen verfolgt, kann diese Angstmache nicht ernst nehmen. Die freie Meinungsäußerung wird nicht durch Social Justice Warriors und Gutmenschen bedroht. Die tatsächliche Gefahr für die Meinungsfreiheit kommt von rechts und wird passend mit „Orbanisierung“ betitelt. P.C.-Kritik ist seit jeher das Standard-Vehikel, um rechte Positionen unter dem Deckmantel des Kampfes für die freie Rede in den öffentlichen Diskurs zu schleusen.

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Erschienen in: Der Standard, 1. Juli 2020