christlich-jüdisch

Das Wortpaar christlich-jüdisch kommt seit einigen Jahren vermehrt zum Einsatz, wenn erklärt werden soll, was „unsere“ Kultur ausmacht. Meist ist dabei von den „christlich-jüdischen Wurzeln“, vom „christlich-jüdischen Abendland“ oder ganz allgemein von einer „christlich-jüdischen Prägung“ die Rede. Vordergründig soll dabei eine geistig-historische Verbundenheit zwischen Christentum und Judentum betont werden. Wer den Begriff verwendet, gibt sich nicht nur tolerant, er oder sie erweist sich auch als geschichtsbewusst.
Tatsächlich kann jedoch kein Zweifel bestehen, dass es bei der Wortschöpfung christlich-jüdisch in erster Linie um die Abgrenzung zum Islam geht. Diese Instrumentalisierung des Judentums, mit dem Zweck eine andere Religion auszuschließen, ist als sagenhafte Unverfrorenheit zu bewerten.

Was ist die Grundlage für diese Verknüpfung von Christentum und Judentum? Worin besteht das Verbindende in der von Christen und Juden geteilten Geschichte? Wie erging es Juden im „christlich-jüdischen Abendland“?
Die Antworten dürften bekannt sein, trotzdem soll kurz ausgeholt werden:

Das Christentum hat mit dem Tanach die religionsbegründende Schrift des Judentums übernommen und als Altes Testament in die christliche Bibel aufgenommen. Dass die beiden Religionen damit grundlegende heilige Schriften teilen, soll nicht geringgeschätzt werden. Entscheidend ist jedoch, dass dieser gemeinsame Bezugspunkt Juden in über zwei Jahrtausenden nicht vor Ausgrenzung, Vertreibung und Massenmord geschützt hat. So es eine „christlich-jüdische Tradition“ gibt, besteht diese in der brutalen Unterdrückung der Juden durch die Christenheit.
Antijudaismus durchzog die Christentumsgeschichte seit ihren Anfängen: Christen gaben Juden die Schuld an der Kreuzigung Jesu. Des „Gottesmordes“ schuldig war das Judentum damit der Widersacher schlechthin für die frühe Kirche. Die feindliche Haltung der Christen gegenüber dem „Volk der Gottesmörder“ sollte sich in den folgenden Jahrhunderten nicht bessern. Im christlich beherrschten Europa waren Juden stets die Fremden, die Ausgestoßenen. Antijudaismus war Teil der Normalität christlicher Gesellschaften. Auf Konzilien wurden Gesetze erlassen, die eine strenge Separierung von Christen und Juden zum Ziel hatten: Verboten waren u.a. die Konversion zum Judentum, die Ehe zwischen Christen und Juden oder die gemeinsame Speiseeinnahme. Meist lebten Juden isoliert in eigenen Wohngebieten. Seit dem Vierten Laterankonzil (1215) mussten sie in vielen Ländern als sichtbare Kennzeichnung ein Stoffstück auf der Kleidung tragen. Landbesitz oder die Mitgliedschaft in Zünften blieb ihnen verwehrt.

In besseren Zeiten wurden Juden von der christlichen Mehrheitsgesellschaft geduldet. Doch diese Duldung konnte jederzeit in Verfolgung umschlagen. Als die religiöse Minderheit waren sie stets erste Wahl, wenn es einen Sündenbock brauchte. Zum Vorwurf des Gottesmordes gesellten sich im Mittelalter legendenhafte Anschuldigungen wie Hostienfrevel oder Ritualmord. Nunmehr „genügte das Verschwinden eines Kindes, um am Ort einen Pogrom bzw. die gerichtliche Verfolgung zu veranlassen“.1
Ein Blick in die Geschichte des Judentums in Mittelalter und früher Neuzeit offenbart unfassbare Gräuel: Als die ersten Kreuzfahrer aufbrachen, um Jerusalem von den Muslimen zu erobern, zerstörten sie zahlreiche jüdische Gemeinden entlang ihrer Reiseroute und ermordeten Tausende. Allein in Worms wurden im Jahr 1096 rund 800 Juden hingemetzelt, in Mainz wurden an die 700 Juden ermordet. Auch in Köln, Speyer, Trier und Regensburg wurden Hunderte massakriert. Um dem rasenden Christen-Mob nicht in die Hände zu fallen, wählten viele Juden den Freitod: Eltern schlitzten ihren Kindern die Kehle auf, Männer erschlugen ihre Frauen und entleibten sich dann selbst. Als Jerusalem am Ende des Ersten Kreuzzuges 1099 erobert wurde, verübten die Kreuzfahrer nicht nur ein Massaker unter den Muslimen, sondern ermordeten auch sämtliche Mitglieder der jüdischen Gemeinde von Jerusalem.

Seit den Kreuzzügen kam es in Europa regelmäßig zu Pogromen. Um nur wenige Beispiele zu nennen: 1221 wurde die jüdische Gemeinde in Erfurt vernichtet; 1285 jene in München; bei den Rintfleisch-Pogromen 1298 wurden 4.000 bis 5.000 Juden ermordet; beim Armlederaufstand 1336 bis 1338 wurden etwa 60 jüdische Gemeinden ausgerottet; 1420 wurden während der Wiener Gesera alle(!) Juden im Herzogtum Österreich verhaftet – in der Folge wurden sie zwangsgetauft, des Landes verwiesen oder hingerichtet… so ging es dahin im „christlich-jüdischen Abendland“.
Besonders brutal waren die Verfolgungen während der Pestpandemie im 14. Jahrhundert. Juden wurde vorgeworfen, durch Brunnenvergiftungen die Pest auszulösen. In vielen Orten fanden Pogrome bereits statt, noch bevor die Pest ausgebrochen war. Beispielsweise 1349 in Basel und Straßburg: In Basel wurde die 50 bis 70 Menschen zählende jüdische Gemeinde ausgelöscht, in Straßburg wurden 2.000 Juden ermordet. Über sechs Tage soll es gedauert haben, bis alle bei lebendigen Leibe verbrannt waren.
Während der Pestpogrome 1348 bis 1351 wurden insgesamt rund 350 jüdische Gemeinden vernichtet. Nach groben Schätzungen kamen etwa zwei Drittel der Juden Europas durch Pogrome und die Pest um.2

Nach den Massenmorden im 13. und 14. Jahrhundert lebten kaum noch Juden in Mitteleuropa. Sukzessive wurden sie des Landes verwiesen: Ende des 13. Jahrhunderts aus England, im 14. Jahrhundert aus Frankreich, im 15. Jahrhundert von der iberischen Halbinsel, bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts aus den allermeisten Städten und Ländern des Heiligen Römischen Reichs.
Juden, die nicht nach Osteuropa ausgewandert waren, waren in den folgenden Jahrhunderten weiter Verfolgung und Vertreibung ausgesetzt. Auch Aufklärung und Reformation änderten wenig an ihrer Rolle als Paria. Selbst unter den großen Philosophen und Schriftstellern des Abendlandes fanden sich zahlreiche Judenfeinde: Voltaire schrieb, dass es ihn „nicht im mindesten wundern [würde], wenn diese Leute eines Tages gefährlich würden für das Menschengeschlecht.“ Und an die Adresse der Juden: „Ihr habt es verdient, bestraft zu werden, denn das ist euer Schicksal.“ Immanuel Kant bezeichnete Juden als eine „Nation von Betrügern“ und als „Vampyre der Gesellschaft“. Bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel steht zu lesen: „Der Löwe hat nicht Raum in einer Nuss, der unendliche Geist nicht Raum in dem Kerker einer Judenseele.“ Auch Religionsgründer Martin Luther kann zweifelsohne als veritabler Judenhasser bezeichnet werden. Er forderte Fürsten schriftlich dazu auf, sämtliche Synagogen niederzubrennen und die Häuser der Juden zu zerstören. Daraufhin „mag man sie etwa unter ein Dach oder Stall tun, wie die Zigeuner, auf dass sie wissen, sie seien nicht Herrn in unserem Lande“. Für Luther galt, dass Juden „1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen sind und immer noch sind“.

So gnadenlos Juden im Verlauf der Geschichte ausgegrenzt und verfolgt wurden, all die Gräuel „christlich-jüdischer Tradition“ geraten in den Hintergrund angesichts der beispiellosen Katastrophe, welche dem Judentum im 20. Jahrhundert widerfahren ist. Sechs Millionen Juden wurden während des Holocaust von den Nationalsozialisten ermordet.
Auch wenn die Täter nicht von religiösen Gegensätzen, sondern von Rassenwahn getrieben waren – der biologistische Antisemitismus der Nationalsozialisten baute auf dem christlichen Antijudaismus auf. Ohne die Jahrhunderte-währende Schmähung der Juden durch die Christenheit wäre es nie zum Holocaust gekommen.
Wie sich die (katholische) Kirche angesichts des Genozids an den Juden verhalten hat, darüber breitet man am Besten den Mantel des Schweigens. Das entspräche auch der Reaktion des damals amtierenden Papst Pius XII. auf dieses Menschheitsverbrechen.

Der Holocaust ist verständlicherweise das Erste, das in den Sinn kommt, wenn man an die historischen Verbrechen denkt, denen Juden zum Opfer gefallen sind. Der industrialisierte Völkermord sticht aufgrund seiner Monstrosität hervor, doch im Prinzip passt dieser zum Verlauf christlich-jüdischer Geschichte: Deren Grundelemente sind Ausgrenzung und stetig wiederkehrende Massenmorde. Hält man sich diese Tatsache vor Augen, erscheinen Begriffe, welche ein historisches, „christlich-jüdisches“ Miteinander suggerieren, grotesk und heuchlerisch.

„Abendland“, „Wurzeln“, „Tradition“, „Prägung“, „Erbe“ etc. werden allerdings exakt zu diesem Zweck eingesetzt. Als bestünde eine Verbundenheit allein deswegen, weil beide Religionsgemeinschaften seit Jahrhunderten in Europa lebten. Dabei kommt es vielmehr darauf an, wie dieses „Zusammenleben“ ausgesehen hat.
Der Bezug auf die Geschichte wird in erster Linie hergestellt, um eine Abgrenzung zur dritten großen Weltreligion zu vollziehen. Christentum und Judentum waren sozusagen „immer schon“ in Europa – für den Islam gilt das nicht. Es besteht wenig Zweifel, dass niemand von „christlich-jüdischen Erbe“ etc. sprechen würde, wäre nicht der Islam in den letzten zwanzig Jahren zum Feindbild Nr.1 der Rechten aufgestiegen.
Die Pointe ist: Bewertete man die gemeinsame Geschichte von Christentum und Islam mit dem gleichen Maßstab wie jene von Christentum und Judentum, könnte genauso gut von „christlich-islamischen Wurzeln“ gesprochen werden. Seit jeher bestanden Kontakte zwischen Christen und Muslimen, man trieb Handel mit- und führte Kriege gegeneinander. Die Iberische Halbinsel wurde über Jahrhunderte von islamischen Machthabern beherrscht, die griechische Philosophie wurde dem Abendland durch muslimische Gelehrte bekannt gemacht, im Habsburgerreich wurde der Islam bereits 1912 als Staatsreligion anerkannt…
Der Antirassismus-Führer will mit dieser Aufzählung nicht dafür argumentieren, dass von „christlich-islamischer Tradition“ o.ä. gesprochen werden soll. Es soll lediglich verdeutlicht werden, dass die historische Realität genügend Anhaltspunkte liefert, um dem Islam ebenso wie dem Judentum eine prägende Rolle für Europas Kultur zuzuschreiben. Wenn eine Beziehung, welche durch die Unterdrückung der einen Religionsgemeinschaft durch die andere gekennzeichnet ist, dazu führt, dass man von gemeinsamen Wurzeln sprechen kann – wieso gilt dies nicht für eine Beziehung, wie sie Christentum und Islam in der Geschichte hatten?

Abgesehen davon, dass die historische Aufwertung des Judentums bei gleichzeitigem Ausschluss des Islam töricht ist, kommt man nicht umhin, diese Redeweise mit der Gegenwart in Zusammenhang zu setzen: Selbst wenn man ausblendet, wie es Juden in den vergangenen Jahrhunderten unter Christen erging und ignoriert, dass der Islam ebenso wie das Judentum Europa geprägt hat – der Fokus auf die Vergangenheit erscheint eigenartig angesichts der gegenwärtigen Verhältnisse: Der Anteil der Juden an der europäischen Gesamtbevölkerung beträgt heute rund 0,2 Prozent. In Deutschland und der Schweiz sind 0,2 Prozent der Bevölkerung jüdisch, in Österreich 0,1 Prozent.
Der Anteil der Muslime beträgt in Deutschland rund 4,9 Prozent, in Österreich 5,1 Prozent. In der Europäischen Union sind 3 Prozent muslimischen Glaubens. Nimmt man sämtliche Mitgliedsländer des Europarates, liegt der Anteil der Muslime durchschnittlich bei 13,6 Prozent.
Einerlei welchen Ausschnitt Europas man heranzieht, es leben heute um ein Vielfaches mehr Muslime als Juden in Europa. Muslime gestalten Gegenwart und Zukunft der europäischen Gesellschaften maßgeblich mit. Sie sind eine feste Größe in der Bevölkerungsstruktur dieses Kontinents. Und sie werden nicht weggehen.
Wenn beschrieben werden soll, was „uns“ ausmacht, schiebt die Rechte diese Tatsache stets beiseite und bemüht stattdessen eine vergangene, „christlich-jüdische“ Verbundenheit, welche es nie gegeben hat. Man sollte dies unterlassen. Vor allem in Deutschland und der ehemaligen Ostmark. Immerhin leben hier die Nachfahren jener Generation, welche daran ging, das Judentum zu vernichten.

Diskussionstipps
(1) Nachfragen, beim Wort nehmen: Wird das Wortpaar „christlich-jüdisch“ in Zusammenhang mit Begriffen wie „Wurzeln“, „Abendland“ etc. benutzt, stellt dies eine gute Gelegenheit dar, nachzufragen: Was ist das Verbindende in der „christlich-jüdischen“ Geschichte? Was genau ist gemeint mit „christlich-jüdischer Tradition“? Wie erging es Juden während der Kreuzzüge? Wie erging es Juden in den Zeiten der Pest? Ist es angemessen, eine „christlich-jüdische“ Verbundenheit anzudeuten, wenn vor wenigen Jahrzehnten sechs Millionen Juden in Europa ermordet wurden?
Den gemeinsamen ideellen Grundlagen von Christentum und Judentum sind die Gräuel, welche Christen Juden im Lauf der Geschichte angetan haben, gegenüberzustellen.
(2) Vergleiche ziehen: Ja, Juden und Christen haben eine lange gemeinsame Geschichte. Doch wie ausgeführt wurde, verlief diese in keiner Weise so, dass man sie als verbindend darstellen kann. Wenn man zur gleichen Zeit am gleichen Ort gelebt hat, etabliert dies nicht zwingend eine Verbindung. Ureinwohner egal welchen Kontinents und deren europäische Kolonisatoren haben auch eine gemeinsame Geschichte. Sklaven und Sklavenhalter ebenso. Aber kommt deswegen irgendjemand auf die Idee, von gemeinsamen Traditionen etc. zu sprechen?
(3) Situation benennen: Begriffe wie „christlich-jüdisches Erbe“ stellen einen Missbrauch des Judentums zum Zwecke der Herabsetzung des Islam dar. Diesen Vorwurf sollte man Zeitgenoss*innen, die solche Wortkombinationen verwenden, auch machen. Wem danach ist, der soll den Islam kritisieren. Allerdings soll er nicht die Nachfahren der europäischen Juden, die 1945 übrig gelassen wurden, dafür missbrauchen.

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1 Michael Toch: Die Juden im mittelalterlichen Reich. Oldenbourg, München 1998, S.58
2 Alfred Haverkamp (Hrsg.): Geschichte der Juden im Mittelalter von der Nordsee bis zu den Südalpen. Hannover 2002, zit. nach FAZ 5.1.2004