Intellektuelle Gemütlichkeit

Replik. Wenn die Kritik an der Political Correctness zur grotesken Karikatur verkommt.

Die Gefahr für die Meinungsfreiheit kommt von rechts und wird passend mit ,Orbánisierung‘ betitelt.“ Aus meiner Aussage in einem Kommentar zitierte Hans Winkler in seinem „Déjà-vu“ vom 14. 7. („Die Kontrolle der Sprache als Anti-Aufklärung“) den ersten Teil und fügte Folgendes hinzu: „Auf Deutsch bedeutet sie: Es gibt Meinungen, die richtig sind und die geäußert werden dürfen – und das sind linke und politisch korrekte.

Dass Winkler aus meinem Satz die Befürwortung eines Meinungsdiktats herauslas, überraschte mich einigermaßen. Die Überraschung währte jedoch nur so lang, bis ich erkannte, dass es sich bei seinen Auslassungen um einen Text aus der Gattung „Anti-Political Correctness-Kommentar“ handelt. Da ist es üblich, dass sich Autoren mit einem Zerrbild der Wirklichkeit auseinandersetzen. Sie konstruieren einen Gegenspieler, der so bedrohlich und absurd ist, dass die Leserschaft gar nicht anders kann, als zuzustimmen. Das macht es für den Autor gemütlich, weil er keine überzeugenden Argumente anführen muss. Wer ist schon gegen die freie Rede?

Das große Schreckgespenst der Kritik an der politischen Korrektheit ist die bedrohte Meinungsfreiheit. Auch Winkler unterstellt der Political Correctness eine „Meinungsfreiheit und Demokratie gefährdende Dimension“, weil sie bestimmte Meinungen „als nicht zulässig“ erkläre. Diesen Schluss kann er jedoch nur ziehen, weil er das Ausüben von Kritik als „Ruf nach Zensur“ missversteht.

Ja, es gibt so etwas wie „Auswüchse der politischen Korrektheit“. Meist auf Unis und nicht selten befremdlich. Doch die Beispiele, die von PC-Gegnern wie Winkler angeführt werden, taugen nicht als Vorboten einer autoritären Zukunft. Wenn heute an einer Uni ein Professor in seinem Vortrag behindert wird, heißt das nicht, dass morgen in der gesamten Gesellschaft „Sprechverbote“ drohen. Die Öffentlichkeit ist für dieses Thema längst in hohem Maße sensibilisiert – schließlich erscheinen seit den frühen 1990er-Jahren Artikel über die gefährliche Political Correctness.

Dabei verdrängen die Reden von „Schweigekartell“, „Sprachpolizei“ etc., dass wir es hier weder mit einer konsistenten Ideologie noch einer elitären Verschwörung zu tun haben. In der Tat geht es um nicht mehr als die Einforderung eines respektvollen sprachlichen Umgangs mit allen Mitgliedern der Gesellschaft. Winkler schreibt der Political Correctness aber mehrfach Dinge zu, die einfach nicht stimmen („absolute Gleichheit“, „Geschlecht keine biologische Tatsache“, gendern ist „Denkreglementierung“ etc.). In der Summe ergeben die Verzerrungen eine grimmig-groteske PC-Karikatur.

Im Unterschied zu Winklers Schreckgespenst ist die Bedrohung der freien Rede von rechts sehr real. Wie meine unvollständig zitierte Aussage nahelegt, muss man nur nach Ungarn (oder Polen) blicken. Eine freie Medienlandschaft, wie sie die Demokratie braucht, ist dort zu großen Teilen beschädigt. Die Verteidiger der Meinungsfreiheit sollten sich den Kopf über diese Realität zerbrechen. Stattdessen beklagen sie erfundenen Meinungszwang von links.

Winkler treibt es mit der intellektuellen Gemütlichkeit auf die Spitze. Weit über ein Drittel seines Textes hat er Wort für Wort von einem Kommentar abgeschrieben, den er bereits 2015 veröffentlicht hat. Wobei: Bedenkt man, dass seit bald 30 Jahren die immer gleichen Kommentare zum Thema erscheinen, ist ein Artikel aus dem Jahr 2015 fast schon frisches Material für Copy-paste-PC-Kritik.

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Erschienen unter: „Die politische Korrektheit als ein bedrohlicher Kobold“, in: Die Presse, 21. Juli 2020