Gutmensch

Angenommen jemand vertritt einen Standpunkt, mit dem etwas nicht stimmt:
Das heißt, der Standpunkt ist zum Beispiel grob vereinfachend und beinhaltet pauschalisierende Urteile über ganze Menschengruppen. Vielleicht ist er darüber hinaus von Niedertracht gekennzeichnet. Und bei genauerer Betrachtung könnte herauskommen, dass er auf falschen Annahmen beruht. Unterm Strich handelt es sich also um einen Standpunkt, der schwer zu verteidigen ist.
In so einem Fall hat es sich für die Rechte bewährt, den Fokus der Diskussion zu verschieben: Weg von den Inhalten hin zum Vertreter der Gegenposition – und diesen diffamieren.
Eines der erfolgreichsten Beispiele für ein solches Argumentum ad hominem ist der berüchtigte Gutmensch. Bereits Mitte der Neunzigerjahre wurde der Begriff zum Schlagwort und hat sich längst im allgemeinen Sprachgebrauch etabliert. Die Funktionsweise ist die gleiche wie bei sämtlichen Kampfbegriffen aus dem Anti-Political Correctness-Diskurs: „Moralapostel“, „Hypermoralist“, „Tugendwächter“, „Rassismuskeule“ etc. Dabei werden Menschen, die gegen Rassismus und Menschenfeindlichkeit auftreten, als „naive Träumer“ dargestellt. Diese sehen die Welt nicht so, wie sie ist, sondern so wie sie sie sehen wollen.
Solcher Art Gutmenschen sind damit als erstes einmal lächerlich. Ihre Meinungen sind inhaltlich nicht ernst zu nehmen, weil sich diese der Realität verweigern. Die Lächerlichkeit der Gutmenschen wird gesteigert, weil sie sich angeblich besonders wichtig nehmen und für überlegen halten. Ihre apostelhafte Besserwisserei nervt.
Der realitätsfremde Gutmensch mit dem erhobenen Zeigefinger ist aber nicht nur eine lachhafte Gestalt, er ist auch eine Bedrohung. Weil er selbst den Kopf in den Sand steckt und viele andere dazu drängt, werden gravierende gesellschaftliche Probleme nicht angegangen und wachsen sich immer weiter aus. Zahlreich wird dem Gutmenschen gar unterstellt, er stehe in Opposition zum Denken an sich: „Ein Gutmensch ist jemand, bei dem das moralische Urteil am Anfang des Denkprozesses steht statt an dessen Ende. Gutmenschen geht es darum, zu beweisen, wer der bessere Mensch ist, statt darum, wer die besseren Argumente hat.1 Oder mit dem Philosophen Konrad Paul Liessmann: „Der gute Mensch ersetzt das Denken durch die Moral.2
In den letzten Jahren sind der Gutmensch und seinesgleichen in zunehmenden Maße autoritär dargestellt worden. „Unangenehme Wahrheiten“ versucht er nun mittels öffentlicher Repression und „gleichgeschalteter“ Medien „totzuschweigen“. Der Gutmensch wandelt sich zum „Tugendterroristen“, welcher „Sprechverbote“ aufstellt und eine Gefahr für die Meinungsfreiheit ist.

Die Rede vom Gutmenschen ist nicht mehr als ein rhetorischer Winkelzug. Die Rechte versucht damit, zu verhindern, dass sie oder ihre Standpunkte Kritik ausgesetzt werden. Jede Argumentation, die nach moralischen Gründen fragt, soll lächerlich erscheinen. Jede Position, die Menschlichkeit fordert, soll von vornherein diskreditiert sein. Statt Idealismus soll Zynismus herrschen.
Ja, es gibt Zeitgenossen, auf die Beschreibungen wie „Moralapostel“ gut passen und die allzu gerne „Das sagt man nicht!“ verkünden. Doch dabei handelt es sich nicht um ein Massenphänomen. Der Vorwurf von „Hypermoral“ und dergleichen wird heute schon gebracht, wenn jemand die Meinung vertritt, dass man Menschen nicht absaufen lässt. Über eine Frage wie diese kann nur diskutiert werden – und das ist in Europa seit Jahren der Fall – wenn jenen, die für Menschlichkeit, Rücksichtnahme oder Respekt eintreten, etwas Suspektes anhaftet.
Allgemein gefragt: Was tun Menschen, die als Gutmenschen, „Tugendwächter“ oder „Sprachpolizisten“ verunglimpft werden? Sie wehren sich gegen Rassismus. Sie kämpfen gegen Diskriminierung. Sie setzen sich für Gerechtigkeit ein. Dass dieses Engagement lächerlich gemacht werden soll, sollte man sich stets vergegenwärtigen, wenn abwertend vom Gutmenschen gesprochen wird. Was um Himmels willen! – möchte der Antirassismus-Führer ausrufen – soll daran kritikwürdig sein?

Diskussionstipps

(1) Situation benennen: Wer andere als Gutmensch schlechtmacht, tut dies, um von der eigenen Niedertracht abzulenken. Oder zumindest um den eigenen Standpunkt aus der Schusslinie zu nehmen. Dieser Vorsatz muss offengelegt werden.
Wer es beispielsweise in Ordnung findet, ganze Bevölkerungsgruppen herabzuwürdigen oder Individuen aufgrund ihrer Herkunft abzuwerten, soll diesen Standpunkt inhaltlich verteidigen. Anstatt jene zu attackieren, die eine andere Meinung haben.
(2) Das Gegenteil von menschenfeindlich ist nicht naiv: Man ist kein „Moralapostel“, nur weil man gegen Menschenfeindlichkeit auftritt. Man ist kein „naiver Träumer“, wenn man daran glaubt, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft friedlich zusammenleben können. Man ist kein „Hypermoralist“, weil man findet, dass man Menschen nicht ertrinken lassen sollte.
Und bezüglich des verwandten Vorwurfs, dass Gutmenschen die Moral über das Denken stellen, ist zu fragen: Warum soll ein Standpunkt der mit Moral argumentiert, nicht gelten? Über die Frage: „Was ist richtig?/Was ist falsch?“ – und damit über die Frage nach der Moral diskutieren Menschen seit jeher. Eine Gesellschaft, welche sich diese Frage nicht mehr stellt, erhebt den Zynismus zum Leitbild. Am Ende wird in ihr nur mehr das Recht des Stärkeren gelten.
(3) Begriff zurückerobern: Die Beleidigung Gutmensch sollte wie ein Ehrentitel getragen werden. Vorbild könnte auch das Selbstbewusstsein von LGBT-Gruppen sein, welches in Parolen wie „We’re here. We’re queer. Get used to it!“ Ausdruck findet: Gutmensch und stolz drauf! Ich bin Gutmensch und das ist gut so! Besser Gutmensch als Bösmensch!

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1 Jochen Bittner: Die Gut(en)menschen, in: Die Zeit, Nr. 21/2017
2 Konrad Paul Liessmann: Der gute Mensch von Österreich. Wien 1996, S. 37