Herkunftsdialog

„Woher kommst Du?“ ist zu einer umstrittenen Frage geworden und das erscheint erst einmal eigenartig. Schließlich ist oft genug ehrliches Interesse der Hintergrund für diese Frage. Die Herkunft oder Migrationsgeschichte eines Menschen kann ein interessantes Gesprächsthema bilden. Wer in jüngerer Zeit eingewandert ist und z.B. die deutsche Sprache noch nicht ganz beherrscht, wird die Frage nach seiner oder ihrer Herkunft auch keineswegs als Affront auffassen.
In der Debatte um den so genannten Herkunftsdialog geht es jedoch nicht um Neo-Einwander*innen. Es wird auch nicht bestritten, dass Personen, die nach der Herkunft fragen, dies in der Regel ohne Argwohn tun. „Woher kommst Du?“ regt auf, weil die Frage zu oft an Menschen gerichtet wird, die eben nicht erst seit kurzem im Land sind; an Menschen, die keine Migrationsgeschichte zu erzählen haben, weil sie von hier sind.
Würde die Frage nach der Herkunft in Gesprächen eine seltene Ausnahme bilden, gäbe es die Debatte darüber nicht. Doch viele People of Color müssen wieder und wieder erklären, woher sie kommen. Und wenn sie mit „von hier“ antworten, ernten sie Ungläubigkeit und Erstaunen: „Aha. Aber woher kommst Du eigentlich?“ Oder: „Aber woher kommen Deine Eltern?“ Solche Gespräche haben etwas von einem Verhör. Der oder die Fragende ist sich sicher, dass der oder die Befragte nicht in die Kategorie „einheimisch“ fällt und trachtet danach, dies zu beweisen. Die Fragerei hört mitunter erst auf, wenn als Antwort Nigeria, Türkei oder ein anderes fernes Land gefallen ist.
Auch wenn es dem oder der Fragenden nicht bewusst sein mag – sie ziehen eine Grenze zwischen „zugehörig“ und „fremd“. Wer immer wieder die Frage „Woher kommst Du?“ beantworten muss, steht ganz offensichtlich außerhalb dieser Grenze.
Wenn man sein ganzes Leben hier verbracht hat, aber diesen Umstand wiederholt erklären muss, bekommt man unweigerlich den Eindruck, dass etwas mit einem nicht stimmt. Man weiß wohl mit Sicherheit, dass man nicht woanders hingehört – hierher gehört man aber scheinbar auch nicht so recht. Die Persönlichkeit eines Deutschen mit dunkler Hautfarbe oder fremd klingendem Namen ist nicht mehr oder weniger facettenreich wie die eines weißen Deutschen. Allerdings wird nur ersterer immer wieder anhand äußerlicher Merkmale als nicht normal kategorisiert. „Du bist anders, Du bist nicht von hier“, lautet die zugrundeliegende Botschaft der Herkunftsfrage.

„Woher kommst Du?“ ist ein gutes Beispiel für die Ambivalenz, die strukturellem Rassismus innewohnt: Im Einzelfall mag die Frage nicht rassistisch sein – doch in Summe bzw. aus der Perspektive der Befragten ist es Rassismus. Denn ihre Zugehörigkeit wird wieder und wieder aufgrund eines äußerlichen Merkmals in Zweifel gezogen. Um den Ärger und die Frustration vieler vor allem Schwarzer Menschen verstehen zu können, ist ein Perspektivenwechsel notwendig: Wie fühlt es sich ab dem zehnten Mal an, gefragt zu werden, woher man „eigentlich“ kommt? Wie fühlt es sich an, unter hunderten Merkmalen eines zu haben, welches immer wieder zum Thema gemacht wird? Wer in die Kategorie „Mainstream-Weiße*r“ fällt, wird selbstverständlich nie ganz nachvollziehen können, wie belastend diese Gefühle sind. Stattdessen muss es darum gehen, sich bewusst zu machen, dass die Frage nach der Herkunft keine Frage wie jede andere ist. Dieses „Bewusst machen“ der Situation von People of Color, berührt das, worum es im Kern bei den Begriffen white privilege und critical whiteness geht.
White privilege meint das Privileg, als Weißer keine Vorstellung davon zu haben, von wie vielen bedrückenden und erniedrigenden Erfahrungen man komplett verschont bleibt: Diskriminierung am Arbeitsmarkt, Benachteiligung bei der Wohnungssuche, rassistische Personenkontrollen durch die Polizei, dumme Sprüche im schulischen oder beruflichen Umfeld, Anfeindungen im öffentlichen Raum, rassistische Gewalt etc. Es soll hier nicht behauptet werden, dass Menschen, die einen (vermeintlich) „sichtbaren“ Migrationshintergrund haben, konstant mit all diesen Diskriminierungen konfrontiert sind. Doch sehr viele machen diese Erfahrungen regelmäßig und artikulieren ihren Ärger und ihre Verletzungen. Das Mindeste, was man demgegenüber tun kann, ist, diese Aussagen ernst zu nehmen. Anstatt sie zu bagatellisieren, wie es allzu oft geschieht.
Anzustreben ist eine Sensibilisierung in zwei Richtungen: Auf der einen Seite für die Situation von People of Color – also Menschen, die aufgrund ihrer äußeren Erscheinung unangenehme bis diskriminierende Erfahrungen machen. Auf der anderen Seite für die Sonderrolle, die man als Weiße*r innehat. Diese Sonderrolle kann damit beschrieben werden, dass Weiß-Sein die Norm darstellt. Die Norm zu sein, bedeutet: sich nicht erklären zu müssen; nicht aufzufallen; nicht Gefahr zu laufen, wegen eines äußeren Merkmals drangsaliert zu werden; nicht wieder und wieder gefragt zu werden, woher man kommt. Als Mainstream-Weiße*r wird man nie als Repräsentant*in einer bestimmten Gruppe angesehen. Man muss sich nie mit gruppenbezogenen Stereotypen herumschlagen, so wie es für People of Color immer wieder der Fall ist. Dunkle Hautfarbe, Migrationshintergrund, Kopftuch etc. werden häufig hervorgehoben oder problematisiert – Weiß-Sein wird nicht einmal gesehen.
Dieser privilegierten Position des Weiß-Seins gegenüber gilt es, eine kritische Selbstwahrnehmung zu entwickeln. Man könnte auch sagen, sich in critical whiteness zu üben.

Es ist verständlich, dass es irritiert, wenn eine harmlos erscheinende Frage wie „Woher kommst Du?“ heute Verärgerung auslösen kann. Für Mitglieder der so genannten Mehrheitsgesellschaft mag es als negative Entwicklung erscheinen, wenn sich eine gewisse Unsicherheit einschleicht, was man noch sagen oder fragen darf. Gesamtgesellschaftlich ist es allerdings ein Fortschritt: In Gesprächen vorsichtiger zu agieren und gegenüber Minderheiten Rücksicht walten zu lassen, ist besser, als deren Bedürfnisse rundheraus zu übergehen. Es ist erfreulich, dass die Zeiten vorüber sind, in denen man ungeniert das N-Wort benutzen oder Kleinwüchsige als „Zwerge“ bezeichnen konnte. In der postmigrantischen Gesellschaft kann nicht länger davon ausgegangen werden, dass ein Schwarzer Mensch von weit her oder ein Muslim eingewandert ist. Es ist nicht (mehr) möglich, Menschen anhand ihres Erscheinungsbildes in „zugehörig“ und „fremd“ einzuteilen.
Angesichts dieser Realität stellt es einen Schritt zurück dar, Einheimische nach ihrer Herkunft zu fragen. Auch wenn die Frage „Woher kommst Du?“ keinen Ausschluss beabsichtigt, sie unterstützt die reaktionäre Vorstellung einer Gesellschaft, in der Weiß-Sein die Norm darstellt.