Political Wokeness

Die Argumentationslinien gegen vermeintliche Wokeness sind alt. Doch ein Blick zurück zeigt: Keines der Schreckensszenarien ist jemals eingetreten.

Winnetou wird verboten. Layla landet auf dem Index. Die Ärzte canceln sich selbst und singen nicht länger von der „fetten Elke“.
In immer schnellerem Takt wird von immer neuen Ungeheuerlichkeiten berichtet.
Verantwortlich dafür soll eine rasant um sich greifende Ideologie sein, genannt Wokeness.
Was über sie zu lesen ist, erinnert stark an die Vorwürfe, welche gegenüber Identitätspolitik und Cancel Culture kursieren. Will man den Kritikern glauben, steht nicht weniger am Spiel als die freie, offene Gesellschaft. Folgerichtig entfacht jeder einzelne dieser Kampfbegriffe hitzige Debatten.

Die Bereitschaft Wokeness, Identitätspolitik und Cancel Culture so zu diskutieren, als handelte es sich dabei um neue Phänomene, ist erstaunlich. Schließlich sind sämtliche Argumente, die aktuell zu hören sind, eins zu eins aus dem über dreißig Jahre alten Anti-Political Correctness-Diskurs kopiert.

Der Ausgangspunkt jeglicher Debatten zum Thema ist das Aufbegehren marginalisierter Gruppen. Diese wollen auf Diskriminierungen aufmerksam machen bzw. setzen sich für gesellschaftliche Teilhabe ein. Man könnte dies unter Überschriften wie Selbstermächtigung oder Herrschaftskritik besprechen – tatsächlich sind es die vermeintlichen Gefahren und Zumutungen, welche von Political Correctness & Co. ausgehen, die Schlagzeilen produzieren.

Schreckgespenst #1 ist das drohende Ende der Meinungsfreiheit. „Nichts darf man mehr sagen!“ lautet der obligatorische Weckruf.
Die angeblichen „Sprechverbote“ werden als Vorboten eines autoritären Zeitalters gedeutet. Argumentiert wird dabei seit 1991(!) nach dem gleichen Schema: Weil heute jemand z.B. auf einer Uni an einem Vortrag gehindert wird, drohen uns morgen Zustände wie in Orwells „1984“. Ein Ausnahmefall wird zur Norm erklärt und als Beleg für die inhärente Gefährlichkeit von Wokeness etc. präsentiert.

Wie es sich für Schauergeschichten gehört, haben jene, die hinter den Bedrohungen stehen, etwas von einem Phantom: Schließlich ist so gut wie niemand zu finden, der sich selbst als „politisch korrekt“ oder „woke“ deklarieren würde. Die Bezeichnungen existieren in erster Linie als negativ besetzte Fremdzuschreibungen.
Jene, die mit diesen arbeiten, haben zwar Unmengen an Text produziert, konnten ihre Gegenspieler aber nie dingfest machen. In aller Regel sind es nicht näher definierte „Sprachpolizisten“, „Tugendterroristen“, neuerdings „Lifestylelinke“ und „Social Justice Warrior“, von denen die Gefahr ausgeht.

Charakterisiert werden sie als naiv und realitätsfern. Statt Vernunft zu gebrauchen, üben sie sich im Moralisieren. Sie sind wehleidig, überempfindlich, geradezu hypersensibel.
Ihre folgenschwerste Eigenschaft: der Hang zum Autoritarismus. Angeblich wollen sie Andersdenkende „zum Schweigen bringen“ oder „mundtot“ machen.
Der „Social Justice Warrior“ von heute wird dabei auf exakt gleich beschrieben wie der politisch korrekte „Gutmensch“ aus dem vorigen Jahrhundert.

Warum ist es von Bedeutung, dass die aktuellen Angriffe allesamt Kopien sind?
Um dies zu beantworten, gilt es, das Dilemma zu veranschaulichen, vor dem die P.C.-Kritik und deren Klone stehen: die hysterischen Warnungen sind keine adäquate Beschreibung der Wirklichkeit.
Wenn die kritisierten „Ideologien“ so mächtig wären – warum nehmen sie dann keinen Einfluss auf die realpolitischen Machtverhältnisse?

Während der über drei Jahrzehnte, in denen vom linken „Meinungsterror“ phantasiert worden ist, hatten CDU/CSU gleichsam ein Dauerabo auf die Kanzlerschaft inne. In Österreich sitzt die ÖVP gar ohne Unterbrechung auf der Regierungsbank; die „ausgegrenzte“ FPÖ war seit 1999 drei mal in einer Regierung. Die SVP ist seit über 20 Jahren stärkste Partei in der Schweiz.

Auch im Bereich der Massenmedien kann mitnichten von einer politisch korrekten Vorherrschaft gesprochen werden: Die meistgelesene Zeitung ist seit jeher die Bild. FAZ, Welt, Focus sind einer woken Ausrichtung ebenso unverdächtig.
Auf dem Buchmarkt und in den neuen Medien leben eine Menge Menschen sehr gut davon, dass sie publizieren, was nicht gesagt werden kann. Die P.C.-Kritik ist längst Mainstream. Ihre Omnipräsenz widerlegt die Erzählung vom „Meinungszwang“.

Um die Diskrepanz zwischen Narrativ und Wirklichkeit zu kaschieren, behelfen sich die Anti-Wokeness-Warrior mit einem simplen Trick: Sie verlagern ihre Schreckensbilder in die Zukunft.
So gut wie nie behaupten sie, dass die freie Rede im Hier und Jetzt substantiell eingeschränkt wäre. Immer „greift etwas um sich“ oder „ist auf dem Vormarsch“.
Die P.C.-Kritik behandelt im Grunde keine faktischen Zustände. Ihr Standardmodus ist das Verkünden von Prophezeiungen.

Ungünstigerweise verliert die eigene Position an Glaubwürdigkeit, wenn fortlaufend verkündete Voraussagen nie eintreten. Die drei Jahrzehnte Anti-P.C.-Diskurs sind hierfür ein leuchtendes Beispiel: Texte, die vor 10, 20 oder 30 Jahren erschienen sind, lesen sich heute wie Satire. So viel Drama, so viel Hysterie – doch nicht eines der dystopischen Bedrohungsszenarien ist je Realität geworden.

Was gegenwärtig über Wokeness, Identitätspolitik und Cancel Culture geschrieben wird, lässt sich wie eine Blaupause über die alten Texte legen, in denen das Feindbild Political Correctness hieß. Kein Kritikpunkt, kein Argument, kein Slogan ist neu. Immer geht es darum, aufmüpfige Randgruppen auf ihren Platz zu verweisen. Wer Rassismus anprangert, will anderen „den Mund verbieten“; wer für gendergerechte Sprache eintritt, errichtet „Gesinnungskorridore“; wer eine menschliche Flüchtlingspolitik befürwortet, betreibt „Tugendterror“.

Statt den Anliegen marginalisierter Gruppen sollen imaginäre „Sprechverbote“ die Debatte dominieren. Das Schreckgespenst der Political Correctness hat diese Aufgabe lange höchst erfolgreich erfüllt – doch der Schauer beim Publikum soll nicht nachlassen.
Die Einführung ein paar neuer Kampfbegriffe scheint dafür auszureichen. Denn gegenwärtig setzen wir voller Elan eine 30 Jahre alte Scheindebatte fort.

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Erschienen unter: „Auf Wiedervorlage“, in: taz, 4. Oktober 2022